und andere Schriften
Klappentext:
Mit seiner ursprünglichen, einleuchtenden und absolut natürlichen Philosophie, seiner unbestechlichen Logik und aufrichtigen Menschenfreundlichkeit vertritt der Philosoph und Lehrer Neros – Seneca – eine geistige Epoche des großen alten abendländischen Weisheitskultes. In seinem berühmten Werk Vom Glückseligen Leben erklärt Seneca, wie wir zu jenem Glück gelangen, das bereits wartend in uns ruht. Dabei greift er alle wichtigen Aspekte des menschlichen Lebens und der notwendigen Geisteshaltung auf und zeigt uns so, dass unsere schöne Kultur ebenso viel Erleuchtung zu bieten hat, wie die alten Länder Asiens.
Aus dem Buch:
Vom glückseligen Leben
1. Glücklich zu leben wünscht jedermann; aber die Grundlagen des Glücks erkennt fast niemand. Freilich ist ein glückseliges Leben keine ganz einfach Sache. Wer einmal den Weg verfehlt hat, entfernt sich immer weiter davon; und geht er nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade Eile ihn immer mehr abführen. Man muss daher zuerst wissen, worauf das Streben zu richten ist; sodann ist der Weg aufzusuchen, der am raschesten ans Ziel führt. Einmal auf dem rechten Weg, wird man sehen, wie groß die Strecke ist, die man täglich zurückgelegt hat, und wie weit noch das Ziel, zu dem uns ein natürliches Verlangen zieht. Solange wir aber da und dort herumschweifen, von verworrenen Stimmen bald da- bald dorthin gezogen, wird unser Leben nur ein steter Irrweg sein, auch wenn wir uns Tag und Nacht um eine richtige Ansicht bemühen. Daher entscheide man sich über das Ziel und Weg und sehe sich nach einem kundigen Führer um, der Ziel und Weg bereits erforscht hat. Es ist hier nicht ebenso wie bei anderen Reisen: Hier hält uns ein Fußpfad, ein Hinweis anwohnender Leute auf dem rechten Weg; dort täuscht gerade der betretenste Weg am meisten. Folgen wir nicht, wie das Herdenvieh, der Schar der Vorangehenden! Wandern wir nicht, wo gegangen wird, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll! Nichts bringt uns in größere Ãœbel, als wenn wir uns nach dem Gerede der Leute richten, für das Beste halten, was „allgemein angenommen“ ist, nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Beispielen leben. Betrachte jene gewaltige Zusammenhäufung von Leuten, wo einer über den andern fällt. Wie bei einem großen Menschengedränge niemand fällt, ohne auch noch andere nach sich zu ziehen, und die Vordersten den Folgenden verderblich werden, so ist es im ganzen Leben: Niemand irrt nur für sich allein, sondern er ist auch Ursache und Urheber fremden Irrtums. Jeder will lieber glauben als nachdenken, und so wird nie über das Leben nachgedacht. Immer glaubt man nur anderen, und ein von Hand zu Hand fortgegebener Irrtum lenkt uns und stürzt uns ins Verderben; durch fremde Beispiele gehen wir zugrunde. Wir werden gerettet, sobald wir uns vom großen Haufen absondern. Ihres eigenen Verderbens Verteidiger steht die Menge der Vernunft feindlich gegenüber. Und so geht es denn wie in den Wahlversammlungen, wo sich dieselben Leute darüber verwundern, dass einer Prätor geworden ist, die ihn doch mit gewählt haben; ein und dasselbe wird gebilligt und getadelt – das ist der Ausgang eines jeden Urteils, bei dem nach der Mehrzahl entschieden wird.
2. Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir nicht wie bei Senatsabstimmungen antworten: „Auf dieser Seite scheint die Wahrheit zu sein“. Eben deshalb ist es das Schlimmere. Es steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, dass das Bessere der Mehrzahl gefiele; ein großer Haufen ist Beweis des Schlechteren. Lass uns daher fragen, was am besten zu tun sei, nicht, was gewöhnlich geschieht, und was uns in den Besitz eines ewigen Glückes setzt, nicht, was dem großen Haufen, dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm ist. Zum großen Haufen aber rechne ich ebenso wohl Leute mit Kronen als Leute im schlechtesten Kittel. Nicht sehe ich auf die Farbe der Kleider, womit die Leiber behängt sind; nicht traue ich den Augen bei meinem Urteil über einen Menschen. Um das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, habe ich ein besseres Licht: des Geistes Wert finde der Geist. Wenn dieser einmal Zeit gewinnt, sich zu erholen und sich in sich selbst zurückzuziehen, wie wird er, von sich selbst gefoltert, sich die Wahrheit gestehen und sagen: Alles, was ich bisher getan, möchte ich lieber ungeschehen wissen; wenn ich an alles zurückdenke, was ich gesprochen habe, so beneide ich die Sprachlosen; alles, was ich gewünscht habe, dünkt mir ein Fluch von Feinden; alles, was ich gefürchtet, o ihr guten Götter, wie viel leichter war es zu ertragen als das, was ich wünschte? Mit vielen habe ich in Feindschaft gelebt und bin aus dem Hasse – wenn überhaupt es unter Schlechten Freundschaft gibt – wieder zur Freundschaft zurückgekehrt; mir selbst aber bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgendein Talent bemerkbar zu machen; was anderes habe ich davon, als dass ich mich zu einem Ziel gemacht und dem Übelwollen gezeigt habe, wo es mich packen kann? Betrachte jene Leute, die deine Beredsamkeit preisen, deinem Reichtum nachgehen, um deine Gunst buhlen, deine Macht in den Himmel erheben! Sie alle sind deine Feinde, oder, was gleich ist, können es sein. So viele Bewunderer, so viele Neider.
3. So will ich lieber etwas suchen, was als gut erprobt ist und wovon ich einen Genuss habe, nicht etwas, womit ich prunken kann; was man anschaut, wovor man stehen bleibt, was einer dem andern mit Erstaunen zeigt; das glänzt von außen, inwendig aber ist’s elend. Lass uns etwas suchen, das nicht bloß dem äußern Scheine nach gut, sondern gehaltvoll, gleichförmig und auf der verborgenen Seite sogar noch schöner ist. Das lass uns ausfindig machen; und es liegt nicht fern, es wird sich finden lassen, nur muss man wissen, wohin man die Hand ausstrecken soll. Jetzt gehen wir wie im Finstern am Naheliegenden vorüber und stoßen gerade an das, was wir sehnlich verlangen.
Doch um dich nicht auf Umwegen herumzuschleppen will ich die Ansichten andrer übergehen; denn es wäre zu weitläufig, sie herzuzählen und zu widerlegen. Hier hast du die unsrige. Wenn ich sage: „die unsrige“, so binde ich mich nicht an einen von den Häuptern der Stoa; auch ich habe das Recht meiner Meinung. Daher werde ich dem einen beipflichten, einen andern seine Ansicht im Einzelnen entwickeln heißen; vielleicht werde ich auch, nach allen andern zum Sprechen aufgefordert, nichts von dem, was meine Vorgänger entschieden haben, verwerfen und bloß sagen: „Ich habe dazu noch folgendes zu bemerken.“ Inzwischen halte ich mich, worin alle Stoiker eins sind, an die Natur; von ihr ist Weisheit. Glückselig also ist ein Leben, welches mit seiner Natur in Einklang steht; dies aber kann uns nicht anders zu teil werden, als wenn zuerst der Geist gesund und in beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; sodann, wenn er kräftig und entschlossen, zudem sittlich rein und geduldig ist, sich den Umständen fügt, für den Körper und seine Bedürfnisse besorgt ist, jedoch ohne Ängstlichkeit; achtsam ferner auf die übrigen Dinge, die zum Leben gehören, ohne auf irgendeines großen Wert zu legen, bereit, die Gaben des Glückes zu benutzen, nicht aber ihnen zu frönen. Du siehst, auch ohne dass ich es hinzufüge, dass dem auch eine beständige Gemütsruhe und Freiheit folgen muss, da alles verbannt ist, was uns entweder reizt oder schreckt. Denn an die Stelle der sinnlichen Genüsse und alles dessen, was kleinlich und hinfällig und Unheil bringend ist, tritt eine hohe, unerschütterliche und sich gleich bleibende Freude, Friede und Harmonie der Seele und Größe mit Sanftmut gepaart; denn alle Rohheit ist nur ein Zeichen von Schwäche.
4. Begriff unseres höchsten Gutes lässt sich auch noch anders bestimmen; der Gedanke bleibt derselbe, wird aber in andere Worte gefasst. Ein und dasselbe Heer kann bald weiter ausgebreitet, bald enger zusammengezogen, und entweder mit eingebogenem Zentrum zu einem Halbkreis formiert, oder in gerader Linie aufgestellt werden; wie es aber auch geordnet ist, seine Kraft und sein Wille, für dieselbe Partei zu stehen, bleibt sich gleich; so kann auch die Begriffsbestimmung des höchsten Gutes bald ausführlicher und umfassender, bald kürzer und gedrängter gegeben werden. Es ist ganz dasselbe, ob ich sage: Das höchste Gut ist eine das Zufällige gering schätzende, ihrer Tugend frohe Seele, oder: eine unüberwindliche Kraft der Seele, voll Einsicht, ruhig im Handeln, dabei reich an Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen man lebt. Man mag den Begriff auch so bestimmen, dass man denjenigen Menschen einen glücklichen nennt dem nichts ein Gut oder ein Übel ist, als allein eine gute oder schlechte Seele, der das sittlich Gute verehrt, dem seine Tugend alles ist, den Zufälliges weder erhebt noch niederschlägt; der kein größeres Gut kennt, als das er sich selbst geben kann, dem die Betrachtung der Sinnenlust wahre Wollust ist. Will man noch weiter gehen, so kann man dem Begriffe noch eine und die andere Form geben, ohne dass der Sinn verletzt oder beeinträchtigt wird. Denn was hindert uns zu sagen, ein glückseliges Leben bestehe darin, einen freien, hoch gesinnten, unerschrockenen und standhaften, über Furcht und Begierden erhabenen Geist zu besitzen, für den es nur ein Gut gibt, Sittlichkeit, und nur ein Übel, Unsittlichkeit? Dem alles Übrige ein wertloser Tand ist, der dem glückseligen Leben weder irgendetwas entziehen, noch beifügen und ohne Vermehrung oder Verminderung des höchsten Gutes kommen und gehen kann. Wer solchen Grund in sich hat, den muss notwendig ununterbrochene Heiterkeit und eine hohe, dem Innersten entspringende Freude begleiten, die sich nur des Ihrigen erfreut und nichts Größeres wünscht, als was ihr Eigen ist. Sollte dies nicht die kleinlichen, armseligen und unbeharrlichen Triebe des elenden Körpers reichlich aufwiegen? Dem Schmerze unterliegt, wer dem Sinnengenusse unterliegt.
5. Du siehst, in welch schlimmer und unheilvoller Knechtschaft einer stehen würde, den Sinnenlust und Schmerzen, die unzuverlässigsten und zügellosesten Gebieter, abwechselnd in Besitz hätten. Daher muss man sich durchringen zur Freiheit; diese aber erreicht man durch nichts anderes als durch Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Dann wird jenes unschätzbare Gut erwachsen, jene Ruhe und Erhabenheit der Seele, die einen höheren Standpunkt gefunden hat, die zu fürchten verlernt hat, und die aus der Erkenntnis der Wahrheit eine hohe und ungestörte Freude gewinnt, eine stete Freundlichkeit und Heiterkeit des Gemüts, daran sie sich erfreut, nicht als an Gütern, sondern als an Früchten ihres eigenen Schatzes. Weil ich nun einmal angefangen habe, mit Begriffsbestimmungen freigebig zu sein, so definiere ich weiter: Glückselig kann auch der genannt werden, der, von der Vernunft geleitet, nichts mehr wünscht und nichts mehr fürchtet. Auch die Steine sind ohne Furcht und Traurigkeit, und ebenso die Tiere; niemand wird sie deshalb glückselig nennen, da sie keine Erkenntnis ihrer Glückseligkeit haben. Auf derselben Stufe stehen Menschen, deren Stumpfsinn und Mangel an Selbsterkenntnis sie dem Vieh und den Tieren beigesellt. Es ist kein Unterschied zwischen diesen und jenen, weil diese gar keine Vernunft haben, jene aber eine verkehrte, die zu ihrem eigenen Schaden und widersinnig wirft. Glückselig kann niemand genannt werden, der außer aller Wahrheit steht; ein glückseliges Leben ist also ein solches, das auf einem richtigen und sicheren Urteil ruht und unveränderlich ist. Dann nämlich ist die Seele rein und frei von allen Ãœbeln, wenn sie sich nicht nur über Verletzungen, sondern auch über Quälereien hinwegsetzt, entschlossen, stehen zu bleiben, wo sie einmal Stand gefasst hat, und ihren Platz auch gegen ein erzürntes Geschick zu behaupten. Die Sinnenlust mag sich von allen Seiten her um uns ergießen, auf allen Wegen heranströmen und der Seele mit ihren Heizungen schmeicheln, sie mag ein Mittel nach dem andern anwenden, um unser ganzes Wesen und die verschiedenen Seiten desselben zu reizen, – welcher Sterbliche, an dem nur noch eine Spur vom Menschen geblieben, wollte Tag und Nacht gekitzelt sein, um unter Verwahrlosung seiner Seele dem Körper zu frönen?
Klappentext:
Mit seiner ursprünglichen, einleuchtenden und absolut natürlichen Philosophie, seiner unbestechlichen Logik und aufrichtigen Menschenfreundlichkeit vertritt der Philosoph und Lehrer Neros – Seneca – eine geistige Epoche des großen alten abendländischen Weisheitskultes. In seinem berühmten Werk Vom Glückseligen Leben erklärt Seneca, wie wir zu jenem Glück gelangen, das bereits wartend in uns ruht. Dabei greift er alle wichtigen Aspekte des menschlichen Lebens und der notwendigen Geisteshaltung auf und zeigt uns so, dass unsere schöne Kultur ebenso viel Erleuchtung zu bieten hat, wie die alten Länder Asiens.
Aus dem Buch:
Vom glückseligen Leben
1. Glücklich zu leben wünscht jedermann; aber die Grundlagen des Glücks erkennt fast niemand. Freilich ist ein glückseliges Leben keine ganz einfach Sache. Wer einmal den Weg verfehlt hat, entfernt sich immer weiter davon; und geht er nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade Eile ihn immer mehr abführen. Man muss daher zuerst wissen, worauf das Streben zu richten ist; sodann ist der Weg aufzusuchen, der am raschesten ans Ziel führt. Einmal auf dem rechten Weg, wird man sehen, wie groß die Strecke ist, die man täglich zurückgelegt hat, und wie weit noch das Ziel, zu dem uns ein natürliches Verlangen zieht. Solange wir aber da und dort herumschweifen, von verworrenen Stimmen bald da- bald dorthin gezogen, wird unser Leben nur ein steter Irrweg sein, auch wenn wir uns Tag und Nacht um eine richtige Ansicht bemühen. Daher entscheide man sich über das Ziel und Weg und sehe sich nach einem kundigen Führer um, der Ziel und Weg bereits erforscht hat. Es ist hier nicht ebenso wie bei anderen Reisen: Hier hält uns ein Fußpfad, ein Hinweis anwohnender Leute auf dem rechten Weg; dort täuscht gerade der betretenste Weg am meisten. Folgen wir nicht, wie das Herdenvieh, der Schar der Vorangehenden! Wandern wir nicht, wo gegangen wird, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll! Nichts bringt uns in größere Ãœbel, als wenn wir uns nach dem Gerede der Leute richten, für das Beste halten, was „allgemein angenommen“ ist, nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Beispielen leben. Betrachte jene gewaltige Zusammenhäufung von Leuten, wo einer über den andern fällt. Wie bei einem großen Menschengedränge niemand fällt, ohne auch noch andere nach sich zu ziehen, und die Vordersten den Folgenden verderblich werden, so ist es im ganzen Leben: Niemand irrt nur für sich allein, sondern er ist auch Ursache und Urheber fremden Irrtums. Jeder will lieber glauben als nachdenken, und so wird nie über das Leben nachgedacht. Immer glaubt man nur anderen, und ein von Hand zu Hand fortgegebener Irrtum lenkt uns und stürzt uns ins Verderben; durch fremde Beispiele gehen wir zugrunde. Wir werden gerettet, sobald wir uns vom großen Haufen absondern. Ihres eigenen Verderbens Verteidiger steht die Menge der Vernunft feindlich gegenüber. Und so geht es denn wie in den Wahlversammlungen, wo sich dieselben Leute darüber verwundern, dass einer Prätor geworden ist, die ihn doch mit gewählt haben; ein und dasselbe wird gebilligt und getadelt – das ist der Ausgang eines jeden Urteils, bei dem nach der Mehrzahl entschieden wird.
2. Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir nicht wie bei Senatsabstimmungen antworten: „Auf dieser Seite scheint die Wahrheit zu sein“. Eben deshalb ist es das Schlimmere. Es steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, dass das Bessere der Mehrzahl gefiele; ein großer Haufen ist Beweis des Schlechteren. Lass uns daher fragen, was am besten zu tun sei, nicht, was gewöhnlich geschieht, und was uns in den Besitz eines ewigen Glückes setzt, nicht, was dem großen Haufen, dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm ist. Zum großen Haufen aber rechne ich ebenso wohl Leute mit Kronen als Leute im schlechtesten Kittel. Nicht sehe ich auf die Farbe der Kleider, womit die Leiber behängt sind; nicht traue ich den Augen bei meinem Urteil über einen Menschen. Um das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, habe ich ein besseres Licht: des Geistes Wert finde der Geist. Wenn dieser einmal Zeit gewinnt, sich zu erholen und sich in sich selbst zurückzuziehen, wie wird er, von sich selbst gefoltert, sich die Wahrheit gestehen und sagen: Alles, was ich bisher getan, möchte ich lieber ungeschehen wissen; wenn ich an alles zurückdenke, was ich gesprochen habe, so beneide ich die Sprachlosen; alles, was ich gewünscht habe, dünkt mir ein Fluch von Feinden; alles, was ich gefürchtet, o ihr guten Götter, wie viel leichter war es zu ertragen als das, was ich wünschte? Mit vielen habe ich in Feindschaft gelebt und bin aus dem Hasse – wenn überhaupt es unter Schlechten Freundschaft gibt – wieder zur Freundschaft zurückgekehrt; mir selbst aber bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgendein Talent bemerkbar zu machen; was anderes habe ich davon, als dass ich mich zu einem Ziel gemacht und dem Übelwollen gezeigt habe, wo es mich packen kann? Betrachte jene Leute, die deine Beredsamkeit preisen, deinem Reichtum nachgehen, um deine Gunst buhlen, deine Macht in den Himmel erheben! Sie alle sind deine Feinde, oder, was gleich ist, können es sein. So viele Bewunderer, so viele Neider.
3. So will ich lieber etwas suchen, was als gut erprobt ist und wovon ich einen Genuss habe, nicht etwas, womit ich prunken kann; was man anschaut, wovor man stehen bleibt, was einer dem andern mit Erstaunen zeigt; das glänzt von außen, inwendig aber ist’s elend. Lass uns etwas suchen, das nicht bloß dem äußern Scheine nach gut, sondern gehaltvoll, gleichförmig und auf der verborgenen Seite sogar noch schöner ist. Das lass uns ausfindig machen; und es liegt nicht fern, es wird sich finden lassen, nur muss man wissen, wohin man die Hand ausstrecken soll. Jetzt gehen wir wie im Finstern am Naheliegenden vorüber und stoßen gerade an das, was wir sehnlich verlangen.
Doch um dich nicht auf Umwegen herumzuschleppen will ich die Ansichten andrer übergehen; denn es wäre zu weitläufig, sie herzuzählen und zu widerlegen. Hier hast du die unsrige. Wenn ich sage: „die unsrige“, so binde ich mich nicht an einen von den Häuptern der Stoa; auch ich habe das Recht meiner Meinung. Daher werde ich dem einen beipflichten, einen andern seine Ansicht im Einzelnen entwickeln heißen; vielleicht werde ich auch, nach allen andern zum Sprechen aufgefordert, nichts von dem, was meine Vorgänger entschieden haben, verwerfen und bloß sagen: „Ich habe dazu noch folgendes zu bemerken.“ Inzwischen halte ich mich, worin alle Stoiker eins sind, an die Natur; von ihr ist Weisheit. Glückselig also ist ein Leben, welches mit seiner Natur in Einklang steht; dies aber kann uns nicht anders zu teil werden, als wenn zuerst der Geist gesund und in beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; sodann, wenn er kräftig und entschlossen, zudem sittlich rein und geduldig ist, sich den Umständen fügt, für den Körper und seine Bedürfnisse besorgt ist, jedoch ohne Ängstlichkeit; achtsam ferner auf die übrigen Dinge, die zum Leben gehören, ohne auf irgendeines großen Wert zu legen, bereit, die Gaben des Glückes zu benutzen, nicht aber ihnen zu frönen. Du siehst, auch ohne dass ich es hinzufüge, dass dem auch eine beständige Gemütsruhe und Freiheit folgen muss, da alles verbannt ist, was uns entweder reizt oder schreckt. Denn an die Stelle der sinnlichen Genüsse und alles dessen, was kleinlich und hinfällig und Unheil bringend ist, tritt eine hohe, unerschütterliche und sich gleich bleibende Freude, Friede und Harmonie der Seele und Größe mit Sanftmut gepaart; denn alle Rohheit ist nur ein Zeichen von Schwäche.
4. Begriff unseres höchsten Gutes lässt sich auch noch anders bestimmen; der Gedanke bleibt derselbe, wird aber in andere Worte gefasst. Ein und dasselbe Heer kann bald weiter ausgebreitet, bald enger zusammengezogen, und entweder mit eingebogenem Zentrum zu einem Halbkreis formiert, oder in gerader Linie aufgestellt werden; wie es aber auch geordnet ist, seine Kraft und sein Wille, für dieselbe Partei zu stehen, bleibt sich gleich; so kann auch die Begriffsbestimmung des höchsten Gutes bald ausführlicher und umfassender, bald kürzer und gedrängter gegeben werden. Es ist ganz dasselbe, ob ich sage: Das höchste Gut ist eine das Zufällige gering schätzende, ihrer Tugend frohe Seele, oder: eine unüberwindliche Kraft der Seele, voll Einsicht, ruhig im Handeln, dabei reich an Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen man lebt. Man mag den Begriff auch so bestimmen, dass man denjenigen Menschen einen glücklichen nennt dem nichts ein Gut oder ein Übel ist, als allein eine gute oder schlechte Seele, der das sittlich Gute verehrt, dem seine Tugend alles ist, den Zufälliges weder erhebt noch niederschlägt; der kein größeres Gut kennt, als das er sich selbst geben kann, dem die Betrachtung der Sinnenlust wahre Wollust ist. Will man noch weiter gehen, so kann man dem Begriffe noch eine und die andere Form geben, ohne dass der Sinn verletzt oder beeinträchtigt wird. Denn was hindert uns zu sagen, ein glückseliges Leben bestehe darin, einen freien, hoch gesinnten, unerschrockenen und standhaften, über Furcht und Begierden erhabenen Geist zu besitzen, für den es nur ein Gut gibt, Sittlichkeit, und nur ein Übel, Unsittlichkeit? Dem alles Übrige ein wertloser Tand ist, der dem glückseligen Leben weder irgendetwas entziehen, noch beifügen und ohne Vermehrung oder Verminderung des höchsten Gutes kommen und gehen kann. Wer solchen Grund in sich hat, den muss notwendig ununterbrochene Heiterkeit und eine hohe, dem Innersten entspringende Freude begleiten, die sich nur des Ihrigen erfreut und nichts Größeres wünscht, als was ihr Eigen ist. Sollte dies nicht die kleinlichen, armseligen und unbeharrlichen Triebe des elenden Körpers reichlich aufwiegen? Dem Schmerze unterliegt, wer dem Sinnengenusse unterliegt.
5. Du siehst, in welch schlimmer und unheilvoller Knechtschaft einer stehen würde, den Sinnenlust und Schmerzen, die unzuverlässigsten und zügellosesten Gebieter, abwechselnd in Besitz hätten. Daher muss man sich durchringen zur Freiheit; diese aber erreicht man durch nichts anderes als durch Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Dann wird jenes unschätzbare Gut erwachsen, jene Ruhe und Erhabenheit der Seele, die einen höheren Standpunkt gefunden hat, die zu fürchten verlernt hat, und die aus der Erkenntnis der Wahrheit eine hohe und ungestörte Freude gewinnt, eine stete Freundlichkeit und Heiterkeit des Gemüts, daran sie sich erfreut, nicht als an Gütern, sondern als an Früchten ihres eigenen Schatzes. Weil ich nun einmal angefangen habe, mit Begriffsbestimmungen freigebig zu sein, so definiere ich weiter: Glückselig kann auch der genannt werden, der, von der Vernunft geleitet, nichts mehr wünscht und nichts mehr fürchtet. Auch die Steine sind ohne Furcht und Traurigkeit, und ebenso die Tiere; niemand wird sie deshalb glückselig nennen, da sie keine Erkenntnis ihrer Glückseligkeit haben. Auf derselben Stufe stehen Menschen, deren Stumpfsinn und Mangel an Selbsterkenntnis sie dem Vieh und den Tieren beigesellt. Es ist kein Unterschied zwischen diesen und jenen, weil diese gar keine Vernunft haben, jene aber eine verkehrte, die zu ihrem eigenen Schaden und widersinnig wirft. Glückselig kann niemand genannt werden, der außer aller Wahrheit steht; ein glückseliges Leben ist also ein solches, das auf einem richtigen und sicheren Urteil ruht und unveränderlich ist. Dann nämlich ist die Seele rein und frei von allen Ãœbeln, wenn sie sich nicht nur über Verletzungen, sondern auch über Quälereien hinwegsetzt, entschlossen, stehen zu bleiben, wo sie einmal Stand gefasst hat, und ihren Platz auch gegen ein erzürntes Geschick zu behaupten. Die Sinnenlust mag sich von allen Seiten her um uns ergießen, auf allen Wegen heranströmen und der Seele mit ihren Heizungen schmeicheln, sie mag ein Mittel nach dem andern anwenden, um unser ganzes Wesen und die verschiedenen Seiten desselben zu reizen, – welcher Sterbliche, an dem nur noch eine Spur vom Menschen geblieben, wollte Tag und Nacht gekitzelt sein, um unter Verwahrlosung seiner Seele dem Körper zu frönen?