Klappentext:
Zu welchen Höhen vermag einen die Liebe – die universelle Liebe – führen, wenn wir die Vorstellungen davon, wer wir sind, ablegen und uns dem großen Ganzen hingeben?
Tom Amarque verfolgt in ‚Adept‘ die spirituelle Entwicklung Sid Arthurs und lässt uns in dieser Neuerzählung der Erleuchtungsgeschichte an den Wirrungen und Prüfungen seines Helden teilhaben.
Aus dem Buch:
14.2.2003
Ich liebe dich. Es heißt, Liebe sei Ekstase, und Ekstase durchzieht mich und meine Welt, wenn ich fühle. Wenn ich dich fühle. Denn du bist alles. Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, ich liebte wie ein Kind, ich wollte wie ein Kind. Als ich durch dich zum Mann wurde, tat ich ab, was kindisch war, und lernte lieben. Früher war mir die Liebe ein Selbstgefühl. Nun ist es ein Gefühl der Freiheit. Durch diese Freiheit öffnet sich die Welt und mit ihr eine Symphonie aus Fragmenten und Blasen, aus Möglichkeiten und Intensitäten. Mein Körper ist ein Teil dieser Welt. Doch von einem unbestimmten Punkt in mir ergötze ich mich am Kaleidoskop der Formen und Farben, und auf sonderbare Weise bin ich gleichzeitig in der Welt und doch vollkommen von ihr getrennt. Wie ein vom Wasser umspülter Stein.
Du sagtest einmal, ich sei ein historischer Positivist. Einer, der alle Ereignisse für gut und richtig und notwendig hält, wenn sie an sich auch schrecklich sind. Du lässt mich im Unklaren darüber, ob diese Haltung richtig oder falsch ist. Wer kann dies letztlich auch schon beurteilen? Wir Menschen mit unseren kleinlichen Kategorien sicher nicht. Ich habe deshalb aufgehört zu mutmaßen, ob meine Handlungen ein Übergewicht von guten oder schlechten Folgen mit sich führen. Wie die Küste Britanniens, die je nach Perspektive entweder dreieinhalbtausend Kilometer oder unendlich lang ist, werden auch die Folgen meines Willens unergründlich, je genauer ich hinschaue. Aber ich kann zugeben, ja, ich bin ein Positivist, wenn es sich um die Ereignisse in dem Universum in mir handelt. In mir schreit die bedingungslose Affirmation zum Leben. Vor meinem erwachten Auge sind alle Phänomene gleich. Sie sind alle gleichermaßen profan und heilig. Sie sind wunderbar. Das Niedere und das Höhere, das Einfache und das Komplizierte, das Alte und das Junge, alles vereint sich vor mir und bedingt sich gegenseitig. Und doch sehe ich da diesen geheimen Drang, wenn sich Welten um mich herum einander annähern, manchmal in Liebe, häufiger im Hass, und am Ende sind wir nur einen Facebook-Klick von einer Revolution entfernt. Die Welt wird stets besser. Die Welt wird immer schlechter. Die Welt war und ist schon immer und zu jedem Augenblick vollkommen. Wer weiß schon den Nutzen von alledem?
Eine grobe und fette Alte öffnet mir die Tür. Sie fragt, was ich will. Vielleicht kommt sie aus Puerto Rico, ihrem Teint nach zu urteilen. Sie hat ein grobes und eckiges Gesicht, Lippen wie Autoreifen und goldbraun gefärbte, kurze Locken. Sie ist so etwas wie eine Wächterin, der ich die richtigen Worte vorsprechen muss. Ich will mich mit der Welt vereinen, denke ich und verlange nach Carma. Sie schaut mich skeptisch an. Dennoch stehe ich einen Moment später in einem Raum, dessen Inneres den Umständen entsprechend unwahrscheinlich erscheint. Ein großer, goldener Buddha, hüfthoch, wacht über das große und üppig ausgestattete Zimmer. Die Wände sind weinrot gestrichen. Eine lederbezogene Chaise Lounge mit weiß lackiertem Holz gibt dem Raum Ambiente. Ein großes edles Bett, das ich selbst gerne hätte. Alles ist sauber und edel und angenehm im Licht. In die Wand eingelassen ist eine Musikanlage, aus der sanfte esoterische Klänge kommen. In der Ecke steht ein Whirlpool. Hätte ich all das nur vorher gewusst.
Vor meinem inneren Auge ziehen Prozessionen junger Frauen entlang, Deva Dasi, die Schönsten des Dorfes, ausgewählt, um ihren Dienst an Gott zu tun. Dann öffnet sich die Tür und Carma tritt herein. Sie mag Anfang zwanzig sein, und ich sehe etwas in ihrem Blick. Etwas in mir reagiert. Ich würde schon wissen wollen, was genau es ist, dieser Impuls, aber es entzieht sich mir. Kann man es je wissen? Es entstammt vielleicht unserer tiefsten Natur, und können, ja sollten wir etwas dagegen tun? Wir können uns an unserem Charakter abarbeiten, unseren körperlichen Verspannungen, unseren Meinungen, und unsere Perspektiven erweitern. Aber unser tiefstes Selbst? Dies können wir nicht ändern. Wir müssen sein, wer wir sind, und wir müssen lernen, uns dementsprechend zu verhalten.
Ich höre Ortega singen: Zu wissen, was man will, ist das Schwierigste in der Welt! Ich höre Peter in den Gesang einstimmen: Tue, was Du willst! Wir sind nichts anderes als dieser Impuls, der aus der Dunkelheit kommt und in die Dunkelheit zurückkehrt, und können ihm folgen oder ihn verleugnen. Dies ist das ganze Geheimnis unseres Lebens.
Carma steht vor mir, entblößt und wunderbar. Ein Wunder Gottes, vollkommene Architektur. Sie duftet wie Kirschblüten im Sommer. Ihr Lachen, von dem die Feministin behauptet, es sei reine Schauspielerei, entblößt sie mehr als ihre Nacktheit. Ich kann es nicht unterscheiden, und wenn es Schauspielerei ist, dann hat sie sicher einen Preis verdient. Es macht ohnehin keinen Unterschied. Für mich sind Frauen eine Manifestation von Gott, oder besser: der Göttin. Mehr noch, wenn wir alle Manifestation der Göttin sind, wenn auch Carma eine Manifestation der Göttin ist, wie kann dann eine Lüge oder Schauspielerei etwas Unwahres oder Unheiliges sein? Es sind keine wahren Emotionen, wendet die Feministin in mir ein. Warum denn nicht, wenn es doch gefühlt wird? Formen wir nicht alle Gefühle, meistens unbewusst, ganz tief unten in dem Maschinenraum unserer Psyche? Ist nur das Gefühl wahrer, von dem wir nicht wissen, wie wir es erzeugt haben?
Carma jedenfalls ist ein Leiter zu Shakti. Nicht eine Leiter, obwohl das auch, sondern ein Leiter, wie in: elektrischer Leiter, a conduit. Das Wort stammt aus dem 13. Jahrhundert, als die Franzosen noch nicht von den geheimen Riten der heiligen Prostitution der Hindus und Buddhisten, der Griechen und der Mesopotamier wussten, und schlicht to channel, to escort bedeutet. Wahrlich, Carma ist heute eine Escort Shaktis. Sie hat keine Ahnung, was ihr geschieht, aber ich bin ein Eingeweihter des Tantra und höre ihr unwillkürliches Kichern, als ich mich die Chakras hocharbeite. Meine Wirbelsäule beginnt zu glühen, ich überlasse dem Wurm die Kontrolle über meinen animalischen Leib. Die Chakras drehen sich, expandieren. Ich lasse die Göttin herein. Die profane Welt des Körpers öffnet sich, und wie durch einen Trichter oder Riss im Weltengefüge strömt göttliche Ekstase, glitzernd-überwältigend, in mich hinein und ergießt sich über mir. Die Zeit und mit ihr alle Ursache und Wirkung bleibt stehen, nein, es hat sie nie gegeben …
Carma bemerkt den goldenen und süßen Tau auf meinem Rücken, verreibt ihn in ihrer Hand, reibt ihn auf ihren Körper und schaut interessiert. Über Carma verbinde ich mich mit der Welt. Im profansten und umfassendsten, ja heiligsten Sinne. Ich habe Sex mit der Wirklichkeit, und Carma ist das Medium. Für meinesgleichen ist vielleicht dies der grundlegendste aller Antriebe, den man sich vorstellen kann. Wir sind aus dem dunklen Chaos gekommen, und wir wollen wieder dorthin zurück, diesmal aber mit voller Bewusstheit. Wir streben alle zur Einheit. Jeder tut dies auf seine Weise, und doch scheint mir dies die grundlegendste aller Motivation zu sein. Da ist etwas Heiliges in allem, und ebenso auch etwas Profanes. Und wenn dies so ist, dann kann ich nur versuchen, das Heilige zu vermehren, indem ich es fokussiere. Doch ich weiß: Dadurch zwinge ich das Profane in die Existenz. Ich kann mich diesem Spiel nicht entziehen durch das Gesetz des Ausgleiches. Alle Konzepte ergeben nur Sinn im Kontext von anderen Konzepten. Schmerz und Genuss, Endlichkeit und Unendlichkeit, innen und außen, arm und reich, schön und hässlich, freu und unfrei, und all diese gegensätzlichen Kategorien müssen überwunden werden, um zur Einheit zu kommen.
Die ganzen geistigen Kategorien, die wir verwenden, all dies muss überdacht werden. Tue dies und dies nicht. Verhalte dich so, dass auch für Folgegenerationen die Erde ein bewohnbarer Planet ist. Doch wie sollen wir diese Unmöglichkeit bewerkstelligen? Ist dies nicht eine für den Menschen unmögliche Aufgabe? Wussten nicht schon die Pilger mit den orangenen Gewändern von vor Tausend Jahren, dass jede Handlung stets Gutes und Schlechtes gleichermaßen bedingt? Was können wir tun, als zu versuchen, all dies in uns zu integrieren? Als sich stets zu entscheiden und durch diese Entscheidung zwangsläufig bestimmte Dinge aus- und andere einzugrenzen? Wir müssen das tun, was wir wollen, und dies in Liebe. Welche anderen Maßstäbe haben wir? Ich verleugne nicht das Unrecht und Leid in der Welt, ich esse kein Fleisch und hebe stets meinen Müll auf. Aber ich verleugne einfache Kategorien. Denn wir befinden uns alle auf einer bestimmten Trajektorie, und keine gleicht der anderen.
Während ich mich anziehe, höre ich dich sagen, seltsam, dass dir Nutten gefallen! Ich antwortete, es ist so viel mehr als das. Es ist eine Art und Weise, in der Welt zu sein, und mich mit der Welt zu vereinen. Ich habe keine Erklärung dafür, noch eine Rechtfertigung. Es ist so, wie es ist. Es ist ein lebendiges Kunstwerk; niemand vermag zu sagen, warum es sich auf eine bestimmte Art und Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbart. Ich kann diesen Drang nur erkennen und in Liebe umsetzen. Liebe alles. Tue alles. Ertrage alles. Verstehe alles. Vereine dich mit allem. Lösche dein individuelles Selbst wie Wasser im Weltenmeer aus! Binde nichts und stürze dich dennoch ins Leben. Begreife jedes Phänomen als eine persönliche Beschäftigung Gottes mit deiner Seele. Schreite voran, und erleuchte. Darum, ja genau darum tue ich es. In mir ist alles Gold. Ich habe das Recht, von dem evolutionären Impuls auf jeder Ebene Gebrauch zu machen. Ich habe kein anderes Recht, als meinen Willen zu tun. Du sagtest, bringe sie nächstes Mal nach Hause mit, dann feiern wir zusammen das Leben. Und warum auch nicht?
Du liegst neben mir und schaust mir skeptisch in die Augen. Man kann sich selbst viel vormachen, viel rechtfertigen, viel schönreden. Daher braucht man ein kaltes Auge, das sich nicht fürchtet, die Wahrheit anzusprechen. Es braucht jemanden, der bereit ist, hart und tief zu schlagen. Dir offenbare ich daher alles. Nichts halte ich zurück, nichts beschönige ich. Betrug empfinde ich dann, wenn ich nicht ehrlich bin. Du bist mein Anker, der mich vor dem Wahnsinn schützt. Einem allein droht nicht selten das Verrücktsein. Mit zweien fängt Gesundheit an. Es gibt Gedanken, die ihr Eigenleben führen, wenn man sie nicht ausdrückt. Ich sage dir, dass es etwas in mir gibt, das unbekannt und ungewusst ist. Etwas, was ich nicht erklären kann, noch jemals erklären können werde, ein Antrieb, ein Eros. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich wurde damit ausgestattet. Er treibt mich an und macht mich zu einem Reisenden in der Welt. Auf dieser Reise gibt es keinen Pfad, der frei von Fehlern oder Schatten ist. Und doch erzeugen Fehler Veränderung; Schatten erzeugen Entwicklung; Fehler erzeugen Leid und damit letztlich auch Freude. Was wir integrieren, macht uns stärker.
Mit dir tauche ich ab in die Unendlichkeiten der Welt, in Bereiche, die nie ein anderer Mensch wird sehen können. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. In dir verliere ich mich. In dir öffnet sich ein Kosmos der Leere, ein Sternenhimmel, ein unendlicher Ozean. Wenn du deine Beine um mich schlägst, verschwinden Körper, verschwindet die Welt, und universelle Prinzipien fangen an zu leuchten. Du bist die lebendige Inkarnation der Lust. Du trägst ein Schwert und reitest auf dem Löwen.
Umso näher ich dir komme, umso schöner bist du. Du bist die Verwirklichung der Idee der Schönheit. Du besitzt eine Weisheit, die ich nie erlangen kann. Je näher ich dir komme, umso klarer sehe ich dich, und dadurch mich. Wofür ich hart arbeite, dies erlangst du spielerisch. An jede neue Ebene, die ich mir lange erarbeite, passt du dich unmittelbar an. Doch du brauchst mich, damit ich die Ebenen erklimme. Mann und Frau. Shiva und Shakti. Ich bin der Punkt. Und du der Umfang.
Ich höre die Stimme in der Stille. Es ist die Stimme meines Ishtadevas. Er sagt mir, dass alles stets in Ordnung ist. Alles ist stets an seinem Ort. Denn alle Phänomene sind gleichzeitig wahr und unwahr, profan und heilig. Er leuchtet, besteht aus dem Strahlen meines eigenen Bewusstseins. Ich fühle ihn. Er ist über mir, er ist in mir. Ich bin er und er ist ich. Ich fühle diese Quintessenz, diesen Fährmann meiner Kreativität und meines Willens, diesen Ursprung der Evolution. Durch ihn bin ich in der Welt, durch ihn gehe ich in die Leere zurück. Durch ihn kristallisiert sich mein Universum. Er sagt: Fürchte weder Menschen noch Geld noch Schicksal noch den Zorn der Götter. Fürchte gar nichts. Nur durch mich kommst du zur Erlangung. Binde nichts. Binde dich nicht an Geld und Sex und Einfluss. Binde dich vor allem nicht an deine eigene Vorstellung von Erlösung.
Die Welt, fragmentarisch, wie sie ist, ist auch immer ein Ganzes, wartend. Sie ist eine heilige Hure mit eintausend Gewändern, denn sie nimmt jeden auf. Ihr Sold ist unser Leben, unsere Intensität, unsere Ekstase. Ihr Blut durchdringt alle Phänomene. Für den Verzweifelten trägt sie das Kleid der Verzweiflung. Für den Traurigen zeigt sie eine Welt der Sorge und für den Umweltfanatiker eine Welt am Abgrund. Doch immer ist sie da, immer kommt sie auf einen zu, immer bietet sie sich selbst feil und immer verlangt sie nur das eine Honorar. Es gibt keinen Weg, es ihr vorzuenthalten oder ihren Dienst nicht in Anspruch zu nehmen. Wie ein Adler kann man das Wirblen und Treiben der Formen wie aus weiter Ferne beobachten, oder sich auf einzelne Phänomene stürzten und scheinbar am Leben teilhaben. Und trotzdem machen all diese Kategorien keinen Unterschied. Sie hat ihre Beine längst um uns geschlungen. Ich liebe dich.
Klappentext:
Zu welchen Höhen vermag einen die Liebe – die universelle Liebe – führen, wenn wir die Vorstellungen davon, wer wir sind, ablegen und uns dem großen Ganzen hingeben?
Tom Amarque verfolgt in ‚Adept‘ die spirituelle Entwicklung Sid Arthurs und lässt uns in dieser Neuerzählung der Erleuchtungsgeschichte an den Wirrungen und Prüfungen seines Helden teilhaben.
Aus dem Buch:
14.2.2003
Ich liebe dich. Es heißt, Liebe sei Ekstase, und Ekstase durchzieht mich und meine Welt, wenn ich fühle. Wenn ich dich fühle. Denn du bist alles. Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, ich liebte wie ein Kind, ich wollte wie ein Kind. Als ich durch dich zum Mann wurde, tat ich ab, was kindisch war, und lernte lieben. Früher war mir die Liebe ein Selbstgefühl. Nun ist es ein Gefühl der Freiheit. Durch diese Freiheit öffnet sich die Welt und mit ihr eine Symphonie aus Fragmenten und Blasen, aus Möglichkeiten und Intensitäten. Mein Körper ist ein Teil dieser Welt. Doch von einem unbestimmten Punkt in mir ergötze ich mich am Kaleidoskop der Formen und Farben, und auf sonderbare Weise bin ich gleichzeitig in der Welt und doch vollkommen von ihr getrennt. Wie ein vom Wasser umspülter Stein.
Du sagtest einmal, ich sei ein historischer Positivist. Einer, der alle Ereignisse für gut und richtig und notwendig hält, wenn sie an sich auch schrecklich sind. Du lässt mich im Unklaren darüber, ob diese Haltung richtig oder falsch ist. Wer kann dies letztlich auch schon beurteilen? Wir Menschen mit unseren kleinlichen Kategorien sicher nicht. Ich habe deshalb aufgehört zu mutmaßen, ob meine Handlungen ein Übergewicht von guten oder schlechten Folgen mit sich führen. Wie die Küste Britanniens, die je nach Perspektive entweder dreieinhalbtausend Kilometer oder unendlich lang ist, werden auch die Folgen meines Willens unergründlich, je genauer ich hinschaue. Aber ich kann zugeben, ja, ich bin ein Positivist, wenn es sich um die Ereignisse in dem Universum in mir handelt. In mir schreit die bedingungslose Affirmation zum Leben. Vor meinem erwachten Auge sind alle Phänomene gleich. Sie sind alle gleichermaßen profan und heilig. Sie sind wunderbar. Das Niedere und das Höhere, das Einfache und das Komplizierte, das Alte und das Junge, alles vereint sich vor mir und bedingt sich gegenseitig. Und doch sehe ich da diesen geheimen Drang, wenn sich Welten um mich herum einander annähern, manchmal in Liebe, häufiger im Hass, und am Ende sind wir nur einen Facebook-Klick von einer Revolution entfernt. Die Welt wird stets besser. Die Welt wird immer schlechter. Die Welt war und ist schon immer und zu jedem Augenblick vollkommen. Wer weiß schon den Nutzen von alledem?
Eine grobe und fette Alte öffnet mir die Tür. Sie fragt, was ich will. Vielleicht kommt sie aus Puerto Rico, ihrem Teint nach zu urteilen. Sie hat ein grobes und eckiges Gesicht, Lippen wie Autoreifen und goldbraun gefärbte, kurze Locken. Sie ist so etwas wie eine Wächterin, der ich die richtigen Worte vorsprechen muss. Ich will mich mit der Welt vereinen, denke ich und verlange nach Carma. Sie schaut mich skeptisch an. Dennoch stehe ich einen Moment später in einem Raum, dessen Inneres den Umständen entsprechend unwahrscheinlich erscheint. Ein großer, goldener Buddha, hüfthoch, wacht über das große und üppig ausgestattete Zimmer. Die Wände sind weinrot gestrichen. Eine lederbezogene Chaise Lounge mit weiß lackiertem Holz gibt dem Raum Ambiente. Ein großes edles Bett, das ich selbst gerne hätte. Alles ist sauber und edel und angenehm im Licht. In die Wand eingelassen ist eine Musikanlage, aus der sanfte esoterische Klänge kommen. In der Ecke steht ein Whirlpool. Hätte ich all das nur vorher gewusst.
Vor meinem inneren Auge ziehen Prozessionen junger Frauen entlang, Deva Dasi, die Schönsten des Dorfes, ausgewählt, um ihren Dienst an Gott zu tun. Dann öffnet sich die Tür und Carma tritt herein. Sie mag Anfang zwanzig sein, und ich sehe etwas in ihrem Blick. Etwas in mir reagiert. Ich würde schon wissen wollen, was genau es ist, dieser Impuls, aber es entzieht sich mir. Kann man es je wissen? Es entstammt vielleicht unserer tiefsten Natur, und können, ja sollten wir etwas dagegen tun? Wir können uns an unserem Charakter abarbeiten, unseren körperlichen Verspannungen, unseren Meinungen, und unsere Perspektiven erweitern. Aber unser tiefstes Selbst? Dies können wir nicht ändern. Wir müssen sein, wer wir sind, und wir müssen lernen, uns dementsprechend zu verhalten.
Ich höre Ortega singen: Zu wissen, was man will, ist das Schwierigste in der Welt! Ich höre Peter in den Gesang einstimmen: Tue, was Du willst! Wir sind nichts anderes als dieser Impuls, der aus der Dunkelheit kommt und in die Dunkelheit zurückkehrt, und können ihm folgen oder ihn verleugnen. Dies ist das ganze Geheimnis unseres Lebens.
Carma steht vor mir, entblößt und wunderbar. Ein Wunder Gottes, vollkommene Architektur. Sie duftet wie Kirschblüten im Sommer. Ihr Lachen, von dem die Feministin behauptet, es sei reine Schauspielerei, entblößt sie mehr als ihre Nacktheit. Ich kann es nicht unterscheiden, und wenn es Schauspielerei ist, dann hat sie sicher einen Preis verdient. Es macht ohnehin keinen Unterschied. Für mich sind Frauen eine Manifestation von Gott, oder besser: der Göttin. Mehr noch, wenn wir alle Manifestation der Göttin sind, wenn auch Carma eine Manifestation der Göttin ist, wie kann dann eine Lüge oder Schauspielerei etwas Unwahres oder Unheiliges sein? Es sind keine wahren Emotionen, wendet die Feministin in mir ein. Warum denn nicht, wenn es doch gefühlt wird? Formen wir nicht alle Gefühle, meistens unbewusst, ganz tief unten in dem Maschinenraum unserer Psyche? Ist nur das Gefühl wahrer, von dem wir nicht wissen, wie wir es erzeugt haben?
Carma jedenfalls ist ein Leiter zu Shakti. Nicht eine Leiter, obwohl das auch, sondern ein Leiter, wie in: elektrischer Leiter, a conduit. Das Wort stammt aus dem 13. Jahrhundert, als die Franzosen noch nicht von den geheimen Riten der heiligen Prostitution der Hindus und Buddhisten, der Griechen und der Mesopotamier wussten, und schlicht to channel, to escort bedeutet. Wahrlich, Carma ist heute eine Escort Shaktis. Sie hat keine Ahnung, was ihr geschieht, aber ich bin ein Eingeweihter des Tantra und höre ihr unwillkürliches Kichern, als ich mich die Chakras hocharbeite. Meine Wirbelsäule beginnt zu glühen, ich überlasse dem Wurm die Kontrolle über meinen animalischen Leib. Die Chakras drehen sich, expandieren. Ich lasse die Göttin herein. Die profane Welt des Körpers öffnet sich, und wie durch einen Trichter oder Riss im Weltengefüge strömt göttliche Ekstase, glitzernd-überwältigend, in mich hinein und ergießt sich über mir. Die Zeit und mit ihr alle Ursache und Wirkung bleibt stehen, nein, es hat sie nie gegeben …
Carma bemerkt den goldenen und süßen Tau auf meinem Rücken, verreibt ihn in ihrer Hand, reibt ihn auf ihren Körper und schaut interessiert. Über Carma verbinde ich mich mit der Welt. Im profansten und umfassendsten, ja heiligsten Sinne. Ich habe Sex mit der Wirklichkeit, und Carma ist das Medium. Für meinesgleichen ist vielleicht dies der grundlegendste aller Antriebe, den man sich vorstellen kann. Wir sind aus dem dunklen Chaos gekommen, und wir wollen wieder dorthin zurück, diesmal aber mit voller Bewusstheit. Wir streben alle zur Einheit. Jeder tut dies auf seine Weise, und doch scheint mir dies die grundlegendste aller Motivation zu sein. Da ist etwas Heiliges in allem, und ebenso auch etwas Profanes. Und wenn dies so ist, dann kann ich nur versuchen, das Heilige zu vermehren, indem ich es fokussiere. Doch ich weiß: Dadurch zwinge ich das Profane in die Existenz. Ich kann mich diesem Spiel nicht entziehen durch das Gesetz des Ausgleiches. Alle Konzepte ergeben nur Sinn im Kontext von anderen Konzepten. Schmerz und Genuss, Endlichkeit und Unendlichkeit, innen und außen, arm und reich, schön und hässlich, freu und unfrei, und all diese gegensätzlichen Kategorien müssen überwunden werden, um zur Einheit zu kommen.
Die ganzen geistigen Kategorien, die wir verwenden, all dies muss überdacht werden. Tue dies und dies nicht. Verhalte dich so, dass auch für Folgegenerationen die Erde ein bewohnbarer Planet ist. Doch wie sollen wir diese Unmöglichkeit bewerkstelligen? Ist dies nicht eine für den Menschen unmögliche Aufgabe? Wussten nicht schon die Pilger mit den orangenen Gewändern von vor Tausend Jahren, dass jede Handlung stets Gutes und Schlechtes gleichermaßen bedingt? Was können wir tun, als zu versuchen, all dies in uns zu integrieren? Als sich stets zu entscheiden und durch diese Entscheidung zwangsläufig bestimmte Dinge aus- und andere einzugrenzen? Wir müssen das tun, was wir wollen, und dies in Liebe. Welche anderen Maßstäbe haben wir? Ich verleugne nicht das Unrecht und Leid in der Welt, ich esse kein Fleisch und hebe stets meinen Müll auf. Aber ich verleugne einfache Kategorien. Denn wir befinden uns alle auf einer bestimmten Trajektorie, und keine gleicht der anderen.
Während ich mich anziehe, höre ich dich sagen, seltsam, dass dir Nutten gefallen! Ich antwortete, es ist so viel mehr als das. Es ist eine Art und Weise, in der Welt zu sein, und mich mit der Welt zu vereinen. Ich habe keine Erklärung dafür, noch eine Rechtfertigung. Es ist so, wie es ist. Es ist ein lebendiges Kunstwerk; niemand vermag zu sagen, warum es sich auf eine bestimmte Art und Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbart. Ich kann diesen Drang nur erkennen und in Liebe umsetzen. Liebe alles. Tue alles. Ertrage alles. Verstehe alles. Vereine dich mit allem. Lösche dein individuelles Selbst wie Wasser im Weltenmeer aus! Binde nichts und stürze dich dennoch ins Leben. Begreife jedes Phänomen als eine persönliche Beschäftigung Gottes mit deiner Seele. Schreite voran, und erleuchte. Darum, ja genau darum tue ich es. In mir ist alles Gold. Ich habe das Recht, von dem evolutionären Impuls auf jeder Ebene Gebrauch zu machen. Ich habe kein anderes Recht, als meinen Willen zu tun. Du sagtest, bringe sie nächstes Mal nach Hause mit, dann feiern wir zusammen das Leben. Und warum auch nicht?
Du liegst neben mir und schaust mir skeptisch in die Augen. Man kann sich selbst viel vormachen, viel rechtfertigen, viel schönreden. Daher braucht man ein kaltes Auge, das sich nicht fürchtet, die Wahrheit anzusprechen. Es braucht jemanden, der bereit ist, hart und tief zu schlagen. Dir offenbare ich daher alles. Nichts halte ich zurück, nichts beschönige ich. Betrug empfinde ich dann, wenn ich nicht ehrlich bin. Du bist mein Anker, der mich vor dem Wahnsinn schützt. Einem allein droht nicht selten das Verrücktsein. Mit zweien fängt Gesundheit an. Es gibt Gedanken, die ihr Eigenleben führen, wenn man sie nicht ausdrückt. Ich sage dir, dass es etwas in mir gibt, das unbekannt und ungewusst ist. Etwas, was ich nicht erklären kann, noch jemals erklären können werde, ein Antrieb, ein Eros. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich wurde damit ausgestattet. Er treibt mich an und macht mich zu einem Reisenden in der Welt. Auf dieser Reise gibt es keinen Pfad, der frei von Fehlern oder Schatten ist. Und doch erzeugen Fehler Veränderung; Schatten erzeugen Entwicklung; Fehler erzeugen Leid und damit letztlich auch Freude. Was wir integrieren, macht uns stärker.
Mit dir tauche ich ab in die Unendlichkeiten der Welt, in Bereiche, die nie ein anderer Mensch wird sehen können. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. In dir verliere ich mich. In dir öffnet sich ein Kosmos der Leere, ein Sternenhimmel, ein unendlicher Ozean. Wenn du deine Beine um mich schlägst, verschwinden Körper, verschwindet die Welt, und universelle Prinzipien fangen an zu leuchten. Du bist die lebendige Inkarnation der Lust. Du trägst ein Schwert und reitest auf dem Löwen.
Umso näher ich dir komme, umso schöner bist du. Du bist die Verwirklichung der Idee der Schönheit. Du besitzt eine Weisheit, die ich nie erlangen kann. Je näher ich dir komme, umso klarer sehe ich dich, und dadurch mich. Wofür ich hart arbeite, dies erlangst du spielerisch. An jede neue Ebene, die ich mir lange erarbeite, passt du dich unmittelbar an. Doch du brauchst mich, damit ich die Ebenen erklimme. Mann und Frau. Shiva und Shakti. Ich bin der Punkt. Und du der Umfang.
Ich höre die Stimme in der Stille. Es ist die Stimme meines Ishtadevas. Er sagt mir, dass alles stets in Ordnung ist. Alles ist stets an seinem Ort. Denn alle Phänomene sind gleichzeitig wahr und unwahr, profan und heilig. Er leuchtet, besteht aus dem Strahlen meines eigenen Bewusstseins. Ich fühle ihn. Er ist über mir, er ist in mir. Ich bin er und er ist ich. Ich fühle diese Quintessenz, diesen Fährmann meiner Kreativität und meines Willens, diesen Ursprung der Evolution. Durch ihn bin ich in der Welt, durch ihn gehe ich in die Leere zurück. Durch ihn kristallisiert sich mein Universum. Er sagt: Fürchte weder Menschen noch Geld noch Schicksal noch den Zorn der Götter. Fürchte gar nichts. Nur durch mich kommst du zur Erlangung. Binde nichts. Binde dich nicht an Geld und Sex und Einfluss. Binde dich vor allem nicht an deine eigene Vorstellung von Erlösung.
Die Welt, fragmentarisch, wie sie ist, ist auch immer ein Ganzes, wartend. Sie ist eine heilige Hure mit eintausend Gewändern, denn sie nimmt jeden auf. Ihr Sold ist unser Leben, unsere Intensität, unsere Ekstase. Ihr Blut durchdringt alle Phänomene. Für den Verzweifelten trägt sie das Kleid der Verzweiflung. Für den Traurigen zeigt sie eine Welt der Sorge und für den Umweltfanatiker eine Welt am Abgrund. Doch immer ist sie da, immer kommt sie auf einen zu, immer bietet sie sich selbst feil und immer verlangt sie nur das eine Honorar. Es gibt keinen Weg, es ihr vorzuenthalten oder ihren Dienst nicht in Anspruch zu nehmen. Wie ein Adler kann man das Wirblen und Treiben der Formen wie aus weiter Ferne beobachten, oder sich auf einzelne Phänomene stürzten und scheinbar am Leben teilhaben. Und trotzdem machen all diese Kategorien keinen Unterschied. Sie hat ihre Beine längst um uns geschlungen. Ich liebe dich.