Was ist Liebe?

Eine integrale Anthologie über die Facetten der Liebe

Eine integrale Anthologie über die Facetten der Liebe

Klappentext:

Was ist Liebe? … ist wohl eine der wichtigsten Fragen unserer Existenz. Ihre Beantwortung bestimmt, wie wir zu uns selbst, zu anderen und zu der Welt stehen. Und jeder Mensch, jede Generation, jede Kultur muss diese Frage aufs Neue beantworten! In dieser Anthologie kommen vierzehn Denker, Philosophen und Wissenschaftler zusammen, um sich dem Schönsten aller Gefühle, der Liebe, anzunähern.

Mit Beiträgen von Ken Wilber, Papst Benedikt XVI., Erich Fromm, Genpo Roshi, Andrew Cohen, Christina Kessler, Michael Habecker, Maik Hosang, Tobias Esch, Elvira Greiner, Tom Amarque, Hardy Fürch, Bernd Markert und Alexander Graeff


 

Aus dem Buch:

ALEXANDER GRAEFF: Über die Liebe

Wer liebt, der denkt auch über Liebe nach. Ganz unabhängig davon, was man Unterschiedliches über Liebe hört, welche Kultur der Liebe einen prägt oder für welche Philosophie der Liebe man sich entscheidet, Liebe wird bei längerem Nachdenken einerseits, aber auch bei zunehmender Erfahrung mit ihr andererseits unweigerlich mit den Phänomenen des Subjektseins, der Existenz und des Lebens zu tun bekommen. Ein Nachdenken über Liebe und auch ein Sprechen über sie – etwa im Austausch der Liebenden untereinander – zeichnet sich hierbei durch zwei Weisen aus: Die eine folgt bestehenden Philosophien der Liebe, die andere verwirft vorreflexive Kulturgüter und entwirft etwas Neues. Meistens bedient man sich beider Weisen.
Abgesehen also davon, ob man Sartre oder Heidegger gelesen hat, eine zentrale Frage wird die eigene Liebe bewegen: die Frage danach, für welche Philosophie man sich selbst entscheidet. Diese Entscheidung steht jedem frei. Entscheidet man sich nicht, was Teil der Freiheit sein kann, wird man nicht nach einem eigenen Konzept von Liebe leben, sondern nach einem, das ich vorreflexives Kulturgut nannte. Wer nicht nachdenkt, kann sich hiergegen nicht wehren.
Ich möchte diese Entscheidung nicht moralisch bewerten, man ist auch hier unabwendbar frei; für mein eigenes Nachdenken und Sprechen über die Liebe ist jedoch ausschlaggebend, zuvor über die Mischkalkulation meines Konzeptes von Liebe, das ich mit diesem Beitrag vorlege, aufzuklären. Meine, man mag sie eine andere Philosophie der Liebe nennen, ist eine thelemische Philosophie der Liebe (von griechisch thelema = Wille). Dies deshalb, weil die willentliche Entscheidung nicht nur hinsichtlich der beiden erwähnten Weisen der Begegnung mit Liebeskonzepten bedeutsam ist, sondern weil Wille ein Kerngedanke meines Liebeskonzeptes darstellt und ich ihn nach reiflicher Überlegung sogar mit Liebe gleichsetzen werde. Daneben spielt die Freiheit eine ebenso große Rolle, ja sie ist sogar die Bezugsgröße, die Wille und Liebe zusammenbringen wird. Die Freiheit, die erkennbar wird an eben den existentiellen Entscheidungen des Subjektes, will ich für mein Konzept axiomatisch zugrunde legen, sie Existenzialie nennen. Damit wird schon die erste Berührung mit einem bestehenden philosophischen Konzept deutlich. Ich folge mit dem Gebrauch des Wortes »Existenzialie« der Existenzphilosophie, die ich aber gleichsam integral durch einen ebenso nicht unerheblichen Einfluss der Subjektphilosophie und der Lebensphilosophie auflösen werde. Diese Auflösung der beeinflussenden philosophischen Richtungen ist der Versuch einer Verschmelzung von Möglichkeiten und Grenzen der beteiligten Philosophien mit dem Ziel, eine andere Philosophie der Liebe zu entwickeln. Die beteiligten Philosophien korrespondieren mit den Phänomenen der Liebe: Die Erfahrung der Existenz spiegelt sich in der Existenzphilosophie, die Erfahrung des Subjektseins und seiner Facetten in der Subjektphilosophie und die Gestaltung des Lebens, eine wichtige Dimension für die Liebe, in der Lebensphilosophie beziehungsweise in der Philosophie der Lebenskunst.
Ich bin der Überzeugung, dass der, der liebt und darüber nachdenkt, irgendwann auch dazu übergehen wird, über sein Konzept der Liebe zu sprechen. Und dieses Sprechen, der Diskurs über ein Phänomen, das wir alle kennen und schätzen, wird rückkoppelnd auch die Liebe als kollektives, kulturelles Gut um weitere köstliche Erfahrungen zu erweitern imstande sein und die Menschen, die sich für das richtige Liebeskonzept entscheiden, vielleicht auf eine höhere Erfahrungsebene zu bringen wissen.

I. Vier kategoriale Zustände der Liebe
Liebe ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des Bewusstseins. Man durchschreitet in der Liebe bestimmte, kategoriale Zustände der Selbst- und Weltbeobachtung. Auch ein Nachdenken und Sprechen über Liebe folgt diesen kategorialen Zuständen. »Bewusstsein« ist eine wesentliche Bezugsgröße beim Thema Liebe. Die Unterscheidung zwischen kategorialen Zuständen des Bewusstseins dient uns hier allein der Veranschaulichung meines Liebeskonzeptes. Diese Zustände des Nachdenkens über Liebe sind gleichzeitig vier Kategorien der Orientierung; sie gelten mir als konstitutive Leitgedanken, bei denen es keinesfalls darum geht, sie normativ für die Liebe als solche zu begreifen.

1. Kategorie: Ego

»Wo immer ich gehe, folgt mir ein Hund namens Ego.« – Friedrich Nietzsche

Nachdenken über Liebe beginnt beim Ich-Bewusstsein. Die existentielle Frage »Wer bin ich?« verweist auf die Fähigkeit des Subjekts, sein eigenes Ich, sein Ego, zu thematisieren. Aber nicht ausschließlich, denn die Frage macht – viel basaler – auch deutlich, dass das Subjekt Bewusstsein dadurch erlangt, dass es »Ich« sagen und mittels dieses sprachlichen Konzeptes das Phänomen seines eigenen Ichs (und Bewusstseins) zu reflektieren imstande ist.
»Ego« ist daher der erste Zustand der Selbstbeobachtung und fundamental (wohl aber nicht ausreichend) für die Liebe. Die Frage »Wer bin ich?«, die sich das Subjekt stellt, ist aber auch Grundlage für ein immer komplexer werdendes Bewusstsein, welches den Zustand des Egos zu überschreiten strebt. Das Ego ist eine Grenze, denn die Antworten auf die oben genannte Frage zeigen oft, dass das Ego überaus geprägt ist von ganz vielfältigen Einflüssen. Ego ist ein Konglomerat aus Eigenschaften, Fähigkeiten, Selbst- und Fremdzuweisungen. Häufig ist gerade deshalb keine »echte« Antwort auf die Frage möglich. Einmal abgesehen von dieser Frage, ist für die Liebe wesentlich, dass sich die Liebenden jenseits egoistischer Problematiken (noch nicht abgeschlossener Selbstfindungsprozesse) befinden, sonst wird die Liebe allzu leicht zum therapeutischen Instrument. An dieser Problematik wird nicht zuletzt deutlich, dass es sinnvoll sein könnte, das Ego zu transzendieren, denn dann ist Liebe möglich.
Die Echtheit einer Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« verweist auf das Bedürfnis nach Integrität des Subjekts. Integrität ist etwas, was man im Verlauf des Lebens erwerben, erlernen muss; es ist dem Subjekt nicht an sich zueigen. Ist das Subjekt integer, so lebt es das, was es selbst will, weiß und fühlt. Es ist also integer, wenn es nicht mehr vom Ego dominiert wird und in seinem Tun einen Abgleich bezüglich des Denkens, Wollens, Handelns und Sprechens gefunden hat. Die Entwürfe des Subjekts, seine Wertvorstellung und Weltsicht, entsprechen dem, was und wie es lebt. Die Praxis seines Lebens geht in den Handlungsentwürfen auf. Dieter Henrich kennzeichnet ein bewusstes Leben mit der Unterscheidung zwischen einem aktiven Leben-Führen und einem passiven Leben-Haben. Er schreibt:

»Ein Leben zu führen heißt anderes, als ein Leben zu haben, das sich als Geschehen vollzieht. Es heißt, von diesem Leben und von dem, was es angeht, zu wissen und aus diesem Wissen heraus einen Gang für es auszulegen oder zumindest doch in den Gang, in dem es gehalten ist, überlegt einzugreifen.«

Das Ego ist durchaus ein Problem. Wenn man nämlich bewusst und aktiv leben will, und Liebe erfordert Aktivität, kommt man nicht umhin, sich Gedanken zu machen, wie man »echte« Antworten jenseits des Egos auf die Frage »Wer bin ich?« finden kann. Man kann das Ego entkräften, indem man es hinsichtlich seiner Funktion fürs eigene Subjektsein erkannt hat. Die Erkenntnis ist: Das Ego ist eine nicht unwichtige Instanz zur Erlangung komplexen Bewusstseins. Nur wer »Ich« gesagt hat, kann irgendwann sein Selbst erkennen. Und wer das wiederum erkannt hat, wird einsehen, dass es kein bloßes »Ich« geben kann. Das Subjekt ist aufgrund seiner Ich-Gedanken und Ich-Aussagen zwar erst ein »wirkliches« Wesen, dem charakteristisch ist, dass es, wie Henrich schreibt, im »Für-mich-Sein« existiert. Zugleich ist das Ego aber höchstgradig abhängig von äußeren, es umgebenden Einflüssen. Henrich konstatiert, »daß die Wirklichkeit im ‚Für-mich-Sein’ nicht selbst-explikativ ist, so daß man ihm einen Grund voraussetzen muß, aus dem es hervorgeht.« Henrich sucht nach dem Ursprung, nach jenem »echten« Moment des Subjektseins, das gerade nicht im Ego aufgeht, gerade nicht hier, sondern in dem, was ich im nächsten Zustand »Selbst« nennen werde und worauf wir noch ausführlich zu sprechen kommen. Nur wer diesen Ursprung für sich erkannt hat, ist zu Liebe jenseits egoistischer Problematiken fähig.
Eine Schwächung des Egos mit dem Ziel, es zu transzendieren, besteht also darin, die Funktion des Egos auf der Metaebene anzuerkennen. Irgendwann zu wissen, dass es besteht, und zu wissen, wie man es transzendieren kann, um zum Grund des Für-mich-Seins, zum Selbst zu kommen. Mit Heidegger gesprochen, verkörpert das Ego nämlich nur Attribute des Seins und gerade kein »echtes« Sein, sondern ein irgendwie beeinflusstes So-Sein, zum Beispiel ein Schöner-Sein-als. Das Selbst hingegen verweist auf die Essenz des Subjekts, auf das Sein; und das ist frei von Beeinflussungen und somit Attributen.
In Dazwischen stellte ich das Konzept der multiplen Ichs vor. Diesem Modell liegt zugrunde, der Dominanz des Egos bewusst – auf der Metaebene – entgegenzutreten, um es überwinden, zumindest schwächen zu können. Die Idee besteht darin, nicht an ein fixes, sich nie änderndes Ich zu glauben und in der Praxis des Lebens auch nicht nach diesem Glauben zu handeln, sondern vielmehr anzunehmen, dass das Ich eine vielfältige Ansammlung von Alternativen der eigenen Identität darstellt. Um einem komplexen Leben gerecht zu werden, wird das Subjekt dann dazu übergehen, vielfältige Fasern des Ichs auszubilden. So wird der Umstand eines übermächtigen und niemals alternierenden Ichs durch das Moment des Multiplen genommen, differenziert: das Ego wird in viele Einzel-Ichs aufgeteilt. Die Einzel-Ichs zeigen dann selbst, wie unbedeutend im Grunde jedes einzelne Ich doch ist; schließlich denkt man weiter und fragt nach dem, was alle Einzel-Ichs begründet. Die Antwort ist: das Selbst.
Das Ego folgt einem Paradox: Einerseits sieht es nur die eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Zuweisungen und begrenzt sich so durch ein Nichtinteresse an anderen Menschen, andererseits orientiert sich das Ego leichtfertig doch an den Eigenschaften, Fähigkeiten und Zuweisungen der anderen und dem Wettbewerb dieser Dinge. Beides sind zugleich Kennzeichen und Probleme des Egos. Die Grenze des Egos wird erst sichtbar, wenn der Mensch im Denken und Handeln nicht über sein Ego hinauszukommen in der Lage ist, dann nämlich wenn er egoistisch denkt und handelt und dabei verkennt, dass er nicht im Sinne seiner »echten« Bedürfnisse denkt und handelt, sondern im Grunde ein Spielball der Seins-Attribute und (moralischen) Anempfehlungen und (unreflektierten) Einrichtungen anderer ist, fremdgesteuert denkt und handelt. Die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« wird daher auch keine »echten« Bedürfnisse, sondern lediglich eine Liste all der vielfältigen Einflüsse offenlegen. Die Liste hilft aber, das zu finden, was eigentlich intentional mit der Frage »Wer bin ich?« beabsichtigt war, die Wesensbestimmung dessen, was das Subjekt ist: Selbst.

Eine integrale Anthologie über die Facetten der Liebe

Klappentext:

Was ist Liebe? … ist wohl eine der wichtigsten Fragen unserer Existenz. Ihre Beantwortung bestimmt, wie wir zu uns selbst, zu anderen und zu der Welt stehen. Und jeder Mensch, jede Generation, jede Kultur muss diese Frage aufs Neue beantworten! In dieser Anthologie kommen vierzehn Denker, Philosophen und Wissenschaftler zusammen, um sich dem Schönsten aller Gefühle, der Liebe, anzunähern.

Mit Beiträgen von Ken Wilber, Papst Benedikt XVI., Erich Fromm, Genpo Roshi, Andrew Cohen, Christina Kessler, Michael Habecker, Maik Hosang, Tobias Esch, Elvira Greiner, Tom Amarque, Hardy Fürch, Bernd Markert und Alexander Graeff


 

Aus dem Buch:

ALEXANDER GRAEFF: Über die Liebe

Wer liebt, der denkt auch über Liebe nach. Ganz unabhängig davon, was man Unterschiedliches über Liebe hört, welche Kultur der Liebe einen prägt oder für welche Philosophie der Liebe man sich entscheidet, Liebe wird bei längerem Nachdenken einerseits, aber auch bei zunehmender Erfahrung mit ihr andererseits unweigerlich mit den Phänomenen des Subjektseins, der Existenz und des Lebens zu tun bekommen. Ein Nachdenken über Liebe und auch ein Sprechen über sie – etwa im Austausch der Liebenden untereinander – zeichnet sich hierbei durch zwei Weisen aus: Die eine folgt bestehenden Philosophien der Liebe, die andere verwirft vorreflexive Kulturgüter und entwirft etwas Neues. Meistens bedient man sich beider Weisen.
Abgesehen also davon, ob man Sartre oder Heidegger gelesen hat, eine zentrale Frage wird die eigene Liebe bewegen: die Frage danach, für welche Philosophie man sich selbst entscheidet. Diese Entscheidung steht jedem frei. Entscheidet man sich nicht, was Teil der Freiheit sein kann, wird man nicht nach einem eigenen Konzept von Liebe leben, sondern nach einem, das ich vorreflexives Kulturgut nannte. Wer nicht nachdenkt, kann sich hiergegen nicht wehren.
Ich möchte diese Entscheidung nicht moralisch bewerten, man ist auch hier unabwendbar frei; für mein eigenes Nachdenken und Sprechen über die Liebe ist jedoch ausschlaggebend, zuvor über die Mischkalkulation meines Konzeptes von Liebe, das ich mit diesem Beitrag vorlege, aufzuklären. Meine, man mag sie eine andere Philosophie der Liebe nennen, ist eine thelemische Philosophie der Liebe (von griechisch thelema = Wille). Dies deshalb, weil die willentliche Entscheidung nicht nur hinsichtlich der beiden erwähnten Weisen der Begegnung mit Liebeskonzepten bedeutsam ist, sondern weil Wille ein Kerngedanke meines Liebeskonzeptes darstellt und ich ihn nach reiflicher Überlegung sogar mit Liebe gleichsetzen werde. Daneben spielt die Freiheit eine ebenso große Rolle, ja sie ist sogar die Bezugsgröße, die Wille und Liebe zusammenbringen wird. Die Freiheit, die erkennbar wird an eben den existentiellen Entscheidungen des Subjektes, will ich für mein Konzept axiomatisch zugrunde legen, sie Existenzialie nennen. Damit wird schon die erste Berührung mit einem bestehenden philosophischen Konzept deutlich. Ich folge mit dem Gebrauch des Wortes »Existenzialie« der Existenzphilosophie, die ich aber gleichsam integral durch einen ebenso nicht unerheblichen Einfluss der Subjektphilosophie und der Lebensphilosophie auflösen werde. Diese Auflösung der beeinflussenden philosophischen Richtungen ist der Versuch einer Verschmelzung von Möglichkeiten und Grenzen der beteiligten Philosophien mit dem Ziel, eine andere Philosophie der Liebe zu entwickeln. Die beteiligten Philosophien korrespondieren mit den Phänomenen der Liebe: Die Erfahrung der Existenz spiegelt sich in der Existenzphilosophie, die Erfahrung des Subjektseins und seiner Facetten in der Subjektphilosophie und die Gestaltung des Lebens, eine wichtige Dimension für die Liebe, in der Lebensphilosophie beziehungsweise in der Philosophie der Lebenskunst.
Ich bin der Überzeugung, dass der, der liebt und darüber nachdenkt, irgendwann auch dazu übergehen wird, über sein Konzept der Liebe zu sprechen. Und dieses Sprechen, der Diskurs über ein Phänomen, das wir alle kennen und schätzen, wird rückkoppelnd auch die Liebe als kollektives, kulturelles Gut um weitere köstliche Erfahrungen zu erweitern imstande sein und die Menschen, die sich für das richtige Liebeskonzept entscheiden, vielleicht auf eine höhere Erfahrungsebene zu bringen wissen.

I. Vier kategoriale Zustände der Liebe
Liebe ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des Bewusstseins. Man durchschreitet in der Liebe bestimmte, kategoriale Zustände der Selbst- und Weltbeobachtung. Auch ein Nachdenken und Sprechen über Liebe folgt diesen kategorialen Zuständen. »Bewusstsein« ist eine wesentliche Bezugsgröße beim Thema Liebe. Die Unterscheidung zwischen kategorialen Zuständen des Bewusstseins dient uns hier allein der Veranschaulichung meines Liebeskonzeptes. Diese Zustände des Nachdenkens über Liebe sind gleichzeitig vier Kategorien der Orientierung; sie gelten mir als konstitutive Leitgedanken, bei denen es keinesfalls darum geht, sie normativ für die Liebe als solche zu begreifen.

1. Kategorie: Ego

»Wo immer ich gehe, folgt mir ein Hund namens Ego.« – Friedrich Nietzsche

Nachdenken über Liebe beginnt beim Ich-Bewusstsein. Die existentielle Frage »Wer bin ich?« verweist auf die Fähigkeit des Subjekts, sein eigenes Ich, sein Ego, zu thematisieren. Aber nicht ausschließlich, denn die Frage macht – viel basaler – auch deutlich, dass das Subjekt Bewusstsein dadurch erlangt, dass es »Ich« sagen und mittels dieses sprachlichen Konzeptes das Phänomen seines eigenen Ichs (und Bewusstseins) zu reflektieren imstande ist.
»Ego« ist daher der erste Zustand der Selbstbeobachtung und fundamental (wohl aber nicht ausreichend) für die Liebe. Die Frage »Wer bin ich?«, die sich das Subjekt stellt, ist aber auch Grundlage für ein immer komplexer werdendes Bewusstsein, welches den Zustand des Egos zu überschreiten strebt. Das Ego ist eine Grenze, denn die Antworten auf die oben genannte Frage zeigen oft, dass das Ego überaus geprägt ist von ganz vielfältigen Einflüssen. Ego ist ein Konglomerat aus Eigenschaften, Fähigkeiten, Selbst- und Fremdzuweisungen. Häufig ist gerade deshalb keine »echte« Antwort auf die Frage möglich. Einmal abgesehen von dieser Frage, ist für die Liebe wesentlich, dass sich die Liebenden jenseits egoistischer Problematiken (noch nicht abgeschlossener Selbstfindungsprozesse) befinden, sonst wird die Liebe allzu leicht zum therapeutischen Instrument. An dieser Problematik wird nicht zuletzt deutlich, dass es sinnvoll sein könnte, das Ego zu transzendieren, denn dann ist Liebe möglich.
Die Echtheit einer Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« verweist auf das Bedürfnis nach Integrität des Subjekts. Integrität ist etwas, was man im Verlauf des Lebens erwerben, erlernen muss; es ist dem Subjekt nicht an sich zueigen. Ist das Subjekt integer, so lebt es das, was es selbst will, weiß und fühlt. Es ist also integer, wenn es nicht mehr vom Ego dominiert wird und in seinem Tun einen Abgleich bezüglich des Denkens, Wollens, Handelns und Sprechens gefunden hat. Die Entwürfe des Subjekts, seine Wertvorstellung und Weltsicht, entsprechen dem, was und wie es lebt. Die Praxis seines Lebens geht in den Handlungsentwürfen auf. Dieter Henrich kennzeichnet ein bewusstes Leben mit der Unterscheidung zwischen einem aktiven Leben-Führen und einem passiven Leben-Haben. Er schreibt:

»Ein Leben zu führen heißt anderes, als ein Leben zu haben, das sich als Geschehen vollzieht. Es heißt, von diesem Leben und von dem, was es angeht, zu wissen und aus diesem Wissen heraus einen Gang für es auszulegen oder zumindest doch in den Gang, in dem es gehalten ist, überlegt einzugreifen.«

Das Ego ist durchaus ein Problem. Wenn man nämlich bewusst und aktiv leben will, und Liebe erfordert Aktivität, kommt man nicht umhin, sich Gedanken zu machen, wie man »echte« Antworten jenseits des Egos auf die Frage »Wer bin ich?« finden kann. Man kann das Ego entkräften, indem man es hinsichtlich seiner Funktion fürs eigene Subjektsein erkannt hat. Die Erkenntnis ist: Das Ego ist eine nicht unwichtige Instanz zur Erlangung komplexen Bewusstseins. Nur wer »Ich« gesagt hat, kann irgendwann sein Selbst erkennen. Und wer das wiederum erkannt hat, wird einsehen, dass es kein bloßes »Ich« geben kann. Das Subjekt ist aufgrund seiner Ich-Gedanken und Ich-Aussagen zwar erst ein »wirkliches« Wesen, dem charakteristisch ist, dass es, wie Henrich schreibt, im »Für-mich-Sein« existiert. Zugleich ist das Ego aber höchstgradig abhängig von äußeren, es umgebenden Einflüssen. Henrich konstatiert, »daß die Wirklichkeit im ‚Für-mich-Sein’ nicht selbst-explikativ ist, so daß man ihm einen Grund voraussetzen muß, aus dem es hervorgeht.« Henrich sucht nach dem Ursprung, nach jenem »echten« Moment des Subjektseins, das gerade nicht im Ego aufgeht, gerade nicht hier, sondern in dem, was ich im nächsten Zustand »Selbst« nennen werde und worauf wir noch ausführlich zu sprechen kommen. Nur wer diesen Ursprung für sich erkannt hat, ist zu Liebe jenseits egoistischer Problematiken fähig.
Eine Schwächung des Egos mit dem Ziel, es zu transzendieren, besteht also darin, die Funktion des Egos auf der Metaebene anzuerkennen. Irgendwann zu wissen, dass es besteht, und zu wissen, wie man es transzendieren kann, um zum Grund des Für-mich-Seins, zum Selbst zu kommen. Mit Heidegger gesprochen, verkörpert das Ego nämlich nur Attribute des Seins und gerade kein »echtes« Sein, sondern ein irgendwie beeinflusstes So-Sein, zum Beispiel ein Schöner-Sein-als. Das Selbst hingegen verweist auf die Essenz des Subjekts, auf das Sein; und das ist frei von Beeinflussungen und somit Attributen.
In Dazwischen stellte ich das Konzept der multiplen Ichs vor. Diesem Modell liegt zugrunde, der Dominanz des Egos bewusst – auf der Metaebene – entgegenzutreten, um es überwinden, zumindest schwächen zu können. Die Idee besteht darin, nicht an ein fixes, sich nie änderndes Ich zu glauben und in der Praxis des Lebens auch nicht nach diesem Glauben zu handeln, sondern vielmehr anzunehmen, dass das Ich eine vielfältige Ansammlung von Alternativen der eigenen Identität darstellt. Um einem komplexen Leben gerecht zu werden, wird das Subjekt dann dazu übergehen, vielfältige Fasern des Ichs auszubilden. So wird der Umstand eines übermächtigen und niemals alternierenden Ichs durch das Moment des Multiplen genommen, differenziert: das Ego wird in viele Einzel-Ichs aufgeteilt. Die Einzel-Ichs zeigen dann selbst, wie unbedeutend im Grunde jedes einzelne Ich doch ist; schließlich denkt man weiter und fragt nach dem, was alle Einzel-Ichs begründet. Die Antwort ist: das Selbst.
Das Ego folgt einem Paradox: Einerseits sieht es nur die eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Zuweisungen und begrenzt sich so durch ein Nichtinteresse an anderen Menschen, andererseits orientiert sich das Ego leichtfertig doch an den Eigenschaften, Fähigkeiten und Zuweisungen der anderen und dem Wettbewerb dieser Dinge. Beides sind zugleich Kennzeichen und Probleme des Egos. Die Grenze des Egos wird erst sichtbar, wenn der Mensch im Denken und Handeln nicht über sein Ego hinauszukommen in der Lage ist, dann nämlich wenn er egoistisch denkt und handelt und dabei verkennt, dass er nicht im Sinne seiner »echten« Bedürfnisse denkt und handelt, sondern im Grunde ein Spielball der Seins-Attribute und (moralischen) Anempfehlungen und (unreflektierten) Einrichtungen anderer ist, fremdgesteuert denkt und handelt. Die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« wird daher auch keine »echten« Bedürfnisse, sondern lediglich eine Liste all der vielfältigen Einflüsse offenlegen. Die Liste hilft aber, das zu finden, was eigentlich intentional mit der Frage »Wer bin ich?« beabsichtigt war, die Wesensbestimmung dessen, was das Subjekt ist: Selbst.

Details zum Buch:
  • Format: 14,3 x 21 cm
  • 316 Seiten
  • Hardcover
  • ISBN: 978-3933321-58-9
  • Unser Preis: 14,95€
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